Es gab kaum etwas, was Kayleigh von einem Herzschlag auf den nächsten aus dem noch müden Zustand in den hellwachen Modus kapitulieren konnte. Sie war die Art Mensch, die noch halb im Land der Träume noch weitere zehn Minuten die Wärme der Bettdecke genoss und meistens war es am Schönsten, wenn ihr Sohn sich ebenso auf diese Kuschelminuten einließ. Diese Momente waren selten, kostbar. Was aber weniger daran lag, dass Kaiko sich zu alt dafür fühlte als das ihr Schlafrhythmus eher dagegen argumentierte. Es war verständlich, dass ein 9-Jähriger am Nachmittag lieber toben und spielen wollte, als mit seiner Mutter zu kuscheln, die noch die Spuren der Nachtschicht abschüttelte. Auch Kaffee war nicht wirklich ein Wundermittel. Sorge um ihren Jungen war da schon eine ganz andere Sache.
Alleine die Tatsache, dass sie zum Wecker wach geworden war, hatte sie unterbewusst schon stocken lassen. Ihr müder Kopf hatte versucht zu verarbeiten welcher Tag heute war. Dienstag. Kaiko hatte seinen Schlüssel und sollte eigentlich von der Schule direkt nach Hause kommen. Sie hörte ihn, wenn er die Wohnung betrat; wurde sie davon kurz wach. Dann folgte eine kleine Begrüßung, bevor Kaiko ins Zimmer ging und sie noch etwas wieder dem Schlaf verfiel. Meistens machte ihr Junge sich dann etwas kleines zu essen, bevor sie am Abend für sie groß kochte und sie es sich gemütlich machten – eine Entschuldigung dafür, dass sie ihn hier und da etwas verschlafen hatte. Denn sie würde heute Nacht wieder los müssen, sodass sie nicht zu früh aufstehen konnte. Heute hatte sie ihn nicht gehört. Verschlafen war sie zu seinem Zimmer gegangen, hatte angeklopft und auf das Wispern seines Namens keine Antwort bekommen – keine verbale. Die Leere des Zimmers, die ihr entgegen sah als sie schlussendlich die Tür öffnete, sprach eine ganz eigene Sprache für sich.
Sofort hatte Kayleigh ihr Handy genommen und versucht ihren Sohn anzurufen – ohne Erfolg. Seit er alleine nach Hause kommen durfte, hatte er ein Handy. Eines, das nicht viel mehr konnte als Anrufe tätigen. Kayleigh war damit vielleicht zu streng, aber er war noch so jung und sie wollte ihm nur eine Möglichkeit geben sie anzurufen. Auch sein Ranzen stand nirgendwo in der Wohnung, seine Schuhe nicht im Flur. Innerhalb weniger Minuten war sie aus den Schlafklamotten in richtige Kleidung geschlüpft – fraglich war, ob man eine Kuschelhose, ein viel zu weites T-Shirt, Hausschlappen und unordentlich zusammen gebundene Haare richtige Kleidung nennen konnte, doch ihr Aussehen war zweitrangig – und hatte sich mit Schlüssel und Handy bewaffnet auf den Weg nach draußen begeben.
„KAIKO?!“ Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie die nahe Umgebung um die Wohnung herum absuchte. War er hier irgendwo? Wie lange sie suchte, bis sie dazu ansetzte die Polizei informieren zu wollen wusste sie nicht, als sie am Haus eines älteren Pärchens vorbei kam – Familie Itō. Kayleigh hatte mit den Hausbesitzern das eine oder andere Wort schon gewechselt und sie hatten ein relativ gutes Verhältnis. Junko Itō hatte einen Narren an Kaiko gefressen und schenkte ihm gerne ein paar Kekse, wenn sie welche zu viel gebacken hatte. Es war irgendwie der Griff nach dem Strohhalm, als sie Junko gefolgt von einem dunkelhaarigen jungen Mann aus dem Haus kommen sah. „Entschuldigen Sie …“ Wollten sie irgendwo hin? Egal, darüber konnte Kayleigh sich nun keine Gedanken machen. „Haben Sie … vielleicht meinen Sohn gesehen?“